19.6. und 21.6.2001, Kino Babylon Berlin
In Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv-Filmarchiv, dem Deutschen Rundfunkarchiv und dem Filmkunsthaus Babylon
Einführungen und Text: Ralf Forster
Mit einer zweiteiligen Veranstaltung zum Berliner Scheunenviertel startete CineGraph Babelsberg seine Kooperation mit dem Berliner Filmkunsthaus Babylon und eine neue Filmreihe.
Ausgehend von der Verortung des Kinos Babylon in Berlin-Mitte spürte ein erstes FilmThema der Historie des Scheunenviertels nach, eines gewachsenen Altberliner Kiezes, der sich zunächst über seine jüdische Kultur definierte, später Zentrum politischer Kämpfe war, in dem sich erschütternde Exempel des Holocaust ereigneten und der zu DDR-Zeiten zunehmend verfiel, dabei aber Spielräume für alternative Lebensformen bot. Der veränderliche Name des zentralen Platzes im Stadteil spiegelt diese Entwicklung: Bülowplatz, Horst-Wessel-Platz, Rosa-Luxemburg-Platz.
Eine Kurzfilmveranstaltung brachte die wenigen erhaltenen filmischen und akustischen Zeugnisse über das Viertel erstmals geschlossen zur Aufführung. Filmaufnahmen über den Kiez sind bis in die siebziger Jahre Rarität – ganz im Gegensatz zum administrativen und geschäftlichen Zentrum Berlins (Schlossplatz, Unter den Linden, Reichstag, Friedrichstraße). Und so sind es zunächst nur kulturelle Versatzstücke, kurze Impressionen sowie auf spektakuläre Ereignisse im Stadtteil Bezug nehmende Filmdokumente, die sich vom Scheunenviertel erhalten haben.
Die Aufnahmen zu Razzia der Sicherheitswehr im Berliner Schieberviertel (1920) entstanden so gar nicht am Ort, den der Titel vorgibt (das Scheunenviertel war im zeitgenössischen Sprachgebrauch schlechthin das Schieberquartier), sondern vermutlich in der Nähe des großen hauptstädtischen Polizeireviers am Columbiadamm. Der nur fragmentarisch überlieferte Streifen bot vermutlich eine Handlungshilfe für die Sicherheitskräfte bei den zwischen 1918-1923 zahlreichen Razzien in dieser Gegend und ist womöglich als der früheste überlieferte Polizeilehrfilm anzusehen.
Die Wochenschauberichterstattung nahm sich des Viertels nur dann an, wenn Jubiläen und Premieren in im Kiez liegenden Zentren der Hochkultur (Volksbühne, DEFA-Premierenkino Babylon) als wichtige Aktualität eine filmische Präsenz einforderten (40 Jahre Volksbühne mit Gerhart Hauptmann 1930, Gerard Philipe in dem nach Kriegszerstörungen wiederhergerichteten Theater, Uraufführung des farbigen DEFA-Märchenfilms Die Geschichte vom kleinen Muck in Anwesenheit von Wolfgang Staudte im Babylon 1954). In diesen Sujets spielt der Kiezalltag natürlich keine Rolle.
Vor allem durch den Standort der KPD-Parteizentrale am Bülowplatz aber auch durch die sich im Scheunenviertel etablierte jüdische Kultur (die zur Zielscheibe der Nationalsozialisten wurde) kulminierten politische Konfrontationen am Ende der Weimarer Republik an diesem Ort. Die Ereignisse des sogenannten Blutmai 1929 hielt ein Kamerateam der KPD unter Piel Jutzi fest (1. Mai – Weltfeiertag der Arbeiterklasse). Der Regisseur postierte in Erwartung von Polizeiübergriffen auf Demonstranten, die sich trotz Verbot am 1. Mai 1929 zu Protesten auf dem Bülowplatz organisierten, Kameraleute der Vereinigung der Arbeiterfotografen (u.a. Erich Heintze) in den angrenzenden Straßen und auf den Dächern von Gebäuden des KPD-Stammhauses gegenüber. So entstanden sehr authentische und detailreiche Zeugnisse von Willkürakten der Polizei, die später auch als Gerichtsdokumente Verwendung fanden.
Ab 1933 attackierten die Nationalsozialisten die jüdische Bevölkerung im Scheunenviertel mit polizeilicher Unterstützung; Razzien – zuvor gegen Schieber und Spekulanten gerichtet – bekamen eine antisemitische und ausländerfeindliche Tendenz. Davon berichtete zwar nicht der Film, aber der Rundfunk am 5. April 1933 in einer Reportage von einer Polizeiaktion im Berliner Scheunenviertel. Bezeichnend ist vor allem der Schlussteil, in dem ein Reporter den Hörern zunächst bekanntgibt, dass mehrere Lkw’s voller politischer Gefangene das Ergebnis der Razzia sei. Dann kommt einer der Festgenommenen zu Wort. Barsch wird ein seit 1897 im Kiez ansässiger polnischer Möbelhändler zu seinem fehlenden Pass befragt und als illegal in Deutschland lebend kriminalisiert. Das Tondokument ist ein signifikantes Beispiel für die Einschüchterungspolitik der Nationalsozialisten in den ersten Monaten ihrer Herrschaft (mittels Verhaftungswellen aber auch über die Mediensprache). Es zeigt auch, welche „Delikte“ ausreichten, um als politischer Gefangener eingestuft zu werden.
In dem stummen Schnittmaterial Berlin 1938 finden sich die wenigen Aufnahmen über die sich trotz Verfolgungen behauptende jüdische Kultur Berlins in der NS-Zeit, Normalität ausstrahlende Fahrten vorbei an intakten auch hebräisch beschilderten Geschäften im Scheunenviertel nur wenige Monate vor den großen Progromen. Die Einstellungen, in ihrem Zweck unbestimmt und dramaturgisch inhomogen, lassen sich auf Frühjahr 1938 datieren: Mehrfach fängt die Kamera Aufrufe zur Volksabstimmung über den sogenannten Anschluss Österreichs am 10. April 1938 ein.
In den siebziger Jahren erwachte in der DDR im Kontext kulturwissenschaftlicher Forschungen, die zunehmend den unverstellten Alltag als ihren Gegenstandsbereich ansahen, auch das Interesse an den verwahrlosten aber bewohnten und mit reicher Geschichte behafteteten Straßen des Scheunenviertels. Parallel dazu und gewissermaßen diesen Erkundungen zuarbeitend hatte das Staatliche Filmarchiv der DDR 1971 eine Dokumentationsreihe ins Leben gerufen, die lebendige Historie (in Form von Zeitzeugeninterviews), soziale Arbeits- und Lebensumfelder sowie noch benutzte Denkmäler der Architektur- und Produktionsgeschichte für nachfolgende Generationen auf Filmband speichern sollte. Die ungestalteten aber doch thematisch strukturierten Aufnahmen der Staatlichen Filmdokumentation der DDR (SFD) – stets gedreht auf 16-mm-ORWO-Schwarz-Weiß-Material – erreichen mit ihrer genauen und unverfälschten Beobachtungstendenz ein hohes Maß an Authentizität und damit auch Subversivität. Die staatlich gelenkte Filmkontrolle duldete ihre Produktion, SFD-Filme mußten nicht der HV-Film (Hauptverwaltung Film) zur Abnahme vorgelegt werden; sie waren ja nicht für die Öffentlichkeit sondern für die mittel- und langfristige Konservierung im Filmarchiv bestimmt.
Innerhalb des Projektes Berlin-Totale III. Lebens- und Wohnverhältnisse porträtierte die SFD in der Redaktion von Veronika Otten von 1976 bis 1980 auch elf Straßenzüge des Scheunenviertels. Im Bemühen, äußere und soziale Realitäten altberliner Straßen aufzunehmen, filmte das Team zum einen detailgenau und durch die Hausnummern kenntlich jede Fassade inklusive der zahlreichen (meist ruinösen) Höfe; nur am Rande kommen in den bisweilen poetischen Bildern Passanten vor. Einige Filme der Reihe bestehen nur aus solchen Aufnahmen (Mulackstraße, 1976).
Andererseits integrierte die SFD in die filmischen Bestandsaufnahmen des Viertels auch Interviews mit Kiezbewohnern, die – wie zufällig auf der Straße angetroffen – zu ihrer Wohnsituation sowie zu ihrem sozialem und infrastrukturellem Umfeld befragt wurden. Und im Vergleich zum DDR-Fernsehdokumentarismus reagieren sie offen, heben ehrlich Positives hervor (niedrige Mieten, gute Einkaufsmöglichkeiten), üben aber auch herbe Kritik am Bauzustand oder an der Luftqualität (Sophienstraße, 1979).
Der Teil Steinstraße (1979) nimmt insofern eine Sonderstellung in dieser Scheunenviertel-Beobachtung ein, da er wesentlich durch ein Interview mit einer ca. 75jährigen Bewohnerin strukturiert ist, das über ihre private Sicht auf die Vergangenheit der Straße Auskunft gibt: „Tante Anna“ erzählt freimütig (aus dem gehwegseitigen Fenster ihrer Erdgeschosswohnung heraus) vom regen Treiben der „kleenen Leute“ in den zwanziger Jahren, schwelgt von der wunderbaren Bäckerei an der nächsten Ecke. Dazu stellt Otten trostlose Bilder der Gegenwart, abbröckelnde Fassaden, heruntergelassene Schaufensterjalousien und menschenleere Straßen – realistische, doch selten im DDR-Kino gesehene Ansichten, mit denen sich u.a. das (vielleicht von den Machern ungewollte) Kritikpotential der SFD-Filme begründen läßt.
Selbst für den mit dokumentarischen Filmen vertrauten Kinobesucher wirken diese Scheunenviertel-Streifen befremdlich, so erscheint die Tonebene merkwürdig leer – sie ist „nur“ mit Originalgeräuschen und Interviewstimmen angereichert (um so stärker wird jedes Geräusch, jedes Wort wahrgenommen). Und viele Bilder scheinen aus der Situation heraus gefilmt zu sein, zufällig und trotzdem das Milieu des Viertels treffend beschreibend.
Einen Blick für das nahezu parabelhafte Zusammentreffen von Alt und Neu im Scheunenviertel am Ende der siebziger Jahre bewies auch Günter Jordan in seinem abendfüllenden Dokumentarfilm Berlin Auguststraße (1979), dem Porträt einer Schulklasse in Mitte, ästhetisch den neorealistischen Berlin-Filmen des Duos Klein/Kohlhaase verpflichtet und linke Filmtraditionen zitierend (Verwendung der Hans-Eisler-Komposition aus Kuhle Wampe u.a. zu einer Fahrradfahrt der Kinder durch den Kiez). Die verwitterten Fassaden des Scheunenviertels bilden hier einen eigentümlichen – und von vielen Besuchern beklagten – Kontrast zu den intensiv mit der Kamera eingefangenen Bemühungen eines Neulehrers, die Kinder zu selbstbestimmten Individuen zu formen. Das Plädoyer für eine Reform des Erziehungswesens im Rahmen sozialistischer Verhältnisse – bei Glaube an eine humane Überlegenheit dieser Gesellschaft – wirkt aber gerade deshalb nicht aufgesetzt, weil auch Günter Jordan den Dingen in die Augen sieht, den mal grauen mal frohen Alltag im Viertel nicht mit Schönfärberei verstellt.